Entfernung und Zeit
- Konrad H.
- 12. Okt. 2024
- 2 Min. Lesezeit
Wer geht, sieht die Welt mit dem ganzen Körper.* Der Hunsrück liegt hinter mir. Vier Tage, über viertausend Höhenmeter und zweihundert Kilometer mit vollem Gepäck klingen nach sportlich motiviertem Ausreizen körperlicher Grenzen. Sie sind jedoch kein Ausdruck einer Höher-Schneller-Weiter-Mentalität, sie sind Resultat einer langsam gewachsenen Affinität zum Gehen, die ihre Entsprechung dadurch in der sukzessiven Erweiterung der Tagesdistanzen gefunden hat, dass nicht die Kilometer, sondern der Tag selbst zum Entfernungsmaßstab wurde. Zwischen dem ersten undeutlichen Schimmer im Osten und dem letzten schwachen Streifen Licht im Westen liegen Tag für Tag, nur durch die Jahreszeiten beeinflusst, ganze Landschaften und dennoch hinreichend zeitlicher Spielraum sie inhaltlich zu füllen. Im Gehen werden die Stunden elastisch und lösen sich letztlich in der Dauer des Tageslichts auf.

Mit den ersten Mehrtagestouren setzte sich die Überzeugung durch, dass das Gehen unsere natürliche Fortbewegungsform ist, über deren Geschwindigkeit hinaus jede Beschleunigung eine zunehmend selektive Wahrnehmung mit sich bringt. Die Langsamkeit ist das entscheidende Charakteristikum dieser Art die Welt zu betrachten, noch langsamer ist nur der Stillstand. Kaum eine andere Fortbewegung ermöglicht ein so unmittelbares Bild der Zusammenhänge von Entfernung, Zeit, Geschichte, Mensch, Natur und Topographie.
Wer geht, nimmt in Kauf nicht in der Lage zu sein, sich ergebende Situationen kurzfristig verlassen zu können und begibt sich gleichzeitig in einen Zustand größtmöglicher Unabhängigkeit. Die einzigen Hindernisse liegen, stark vereinfacht und abstrahiert, in Wasser und Felswänden, während jedes andere Fortbewegungsmittel, ungeachtet seiner Geschwindigkeit, an infrastrukturelle Voraussetzungen der Wegbeschaffenheit gebunden ist und Wartung, Pflege, Aufmerksamkeit und schlimmstenfalls Reparatur bedarf. Sich zu Fuß durch die Welt zu bewegen birgt eigene Freiheitspotentiale, aber auch Herausforderungen. Wer jemals morgens um fünf aufgebrochen ist und nach unzähligen Kilometern abends zweiundzwanzig Uhr auf der Suche nach einem Schlafplatz in völliger Dunkelheit im Wald stand weiß: Die Schwierigkeit liegt manchmal weniger in der zurückgelegten Strecke, als in der Zeit und eben jener fußläufigen Relativität derselben. Gehen kann über Tage hinweg eine mentale Herausforderung werden, die Resilienz und Übung erfordert, gleichzeitig aber schafft es einen Zustand der Ruhe in der Bewegung, der zur eigenen Haltung wird. Im Gehen heben sich Fern- und Heimweh auf. Zu Fuß zu reisen ist eine Form der Zurückgeworfenheit auf einen selbst.
Am letzten Tag der elften Etappe unterhalte ich mich mit einem Ultramarathonläufer. Nach einem Gespräch über Motivation, Durchhaltevermögen, Leistungsfähigkeit und Schmerzen, aber auch über Reisen, Interesse und Erfolg im Leben, verabschieden wir uns im Konsens, dass ungeachtet unserer verschiedenen Perspektiven auf den Weg und seine Länge, der eigene Kopf der Schlüssel zu seiner Begehung ist.
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* Trojanow, Ilija (2019); Weltwach Podcast Folge 078 – Gebrauchsanweisung fürs Reisen




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